Selenski überzeugt als Kriegspräsident - nun wollen die Ukrainer auch an der "inneren Front" Resultate sehen

Ivo Mijnssen,

Wien 31.01.2023, 05.30 Uhr

Die Toleranz der Bevölkerung für die Selbstherrlichkeit der Elite sinkt angesichts der eigenen Opfer rapide. Doch das politische System macht ein hartes Durchgreifen fast unmöglich.

Präsident Selenski in Cherson, links im Bild sein zurückgetretener Berater Kirilo Timoschenko.
Reuters

Ausgerechnet in der Woche seines 45. Geburtstags ist Wolodimir Selenski hart auf dem Boden der politischen Realität gelandet. Der ukrainische Präsident mag als Ikone des Widerstands gegen Russland längst überlebensgross geworden sein. Seine Umgebung präsentiert sich nach einer Reihe von Korruptionsskandalen und einem Dutzend Rücktritten aber alles andere als heldenhaft. Nun kämpft der Präsident gegen seine Entzauberung, und in Kiew hält sich hartnäckig das Gerücht, dass es bald zu weiteren Demissionen kommt.

Dubiose Praktiken der Elite sind für die Ukrainer nichts Neues. Doch der Abwehrkampf gegen Russland hat die Öffentlichkeit aufgewühlt und moralisch aufgeladen: Die Menschen sind mobilisiert, sie erleben Verlust und Exil oder sitzen in ihren dunklen Wohnungen, wo die Enthüllungen in sozialen Netzwerken auf ihren Mobiltelefonen landen. Sie nehmen diese nicht länger schulterzuckend hin.

Treiber und Getriebener

Dies ist gefährlich für den telegenen Kriegspräsidenten. Selenski sagte deshalb der Korruption zum wiederholten Mal den Kampf an und schickte seinen Berater Michailo Podoljak mit den richtigen Worten nach: "In Kriegszeiten müssen alle an ihre Verantwortung erinnert werden", schrieb dieser auf Twitter. "Der Präsident hat sofort auf die Kernforderung der Gesellschaft reagiert - Gerechtigkeit für alle."

So populistisch und vereinfachend die Erklärung daherkommt, so enthüllt sie doch viel über die Positionierung des Präsidenten als direkter Vertreter des Volks. Sie zeigt Selenski als Antreiber und Getriebenen: Der Kriegszustand stattet ihn mit weitgehenden Vollmachten aus, und auf der politischen Bühne gibt es keine Rivalen. Entsprechend macht ihn die Bevölkerung für Missstände verantwortlich.

Doch Selenski ist kein omnipotenter Anführer. Seine Bewegung "Diener des Volkes" dient vielmehr unterschiedlichen und nach wirtschaftlichen sowie persönlichen Loyalitäten organisierten Gruppierungen als "Dach" zum Machterhalt. Auch die Position des Präsidenten innerhalb dieser Konstellation bleibt bis heute nicht vollständig geklärt.

Generatoren sind überlebenswichtig; Korruption bei ihrer Beschaffung sorgt daher für umso grössere Empörung.
Ed Ram / Getty

Im politischen Befreiungsschlag von letzter Woche vermischen sich deshalb Korruptionsbekämpfung, Öffentlichkeitsarbeit und interne Rivalitäten. Dies bedeutet, dass Selenskis Durchgreifen zwar selektiv, aber nicht zufällig war: So agierten die Entlassenen in Bereichen oder Regionen, die als anfällig für Unregelmässigkeiten gelten - und in solchen, die im Abwehrkampf emotional besonders behaftet sind. Dazu gehört die mutmasslich überteuerte Beschaffung von Lebensmitteln für die Armee. In einem anderen Fall ging es um Bereicherung beim Kauf von Generatoren.

Dem Gouverneur von Saporischja wurden Medienberichte zum Verhängnis, die ihn für gestohlene Hilfslieferungen mitverantwortlich machen. Für besondere Empörung sorgten ein hoher Justizbeamter und ein Abgeordneter, die unter dem Vorwand einer Dienstreise im Ausland Ferien machten. Gleichzeitig dürfen Männer im wehrfähigen Alter die Ukraine nicht verlassen, obwohl Millionen seit bald einem Jahr getrennt von ihren geflüchteten Familienmitgliedern leben. Prompt wurde die Regelung für Dienstreisen verschärft.

Mentoren und ihre Schützlinge

Die meisten der Entlassenen waren jedoch in Strassenbauprojekte involviert, die zu den Korruptions-Klassikern gehören. Besonders schamlos stellte sich Walentin Resnitschenko an, der Gouverneur von Dnipropetrowsk: Er schanzte seiner Fitness-Instruktorin Aufträge in der Höhe von umgerechnet fast 40 Millionen Franken zu - und liess sich dabei von Journalisten erwischen.

Der Beamte, der im Büro des Präsidenten über das wichtigste staatliche Strassenbauprogramm wachte, war Kirilo Timoschenko. Er ist die bedeutendste Figur, die ihren Posten verlor. In einem klientelistischen System wie jenem der Ukraine, wo gute Beziehungen zu hochrangigen Mentoren entscheidend sind, hat der Abgang eines solch mächtigen Akteurs Folgen: Die vier entlassenen Gouverneure galten ebenso als seine "Schützlinge" wie mehrere Vizeminister.

Der Krieg gegen Russland absorbiert alle Energien, doch die Erwartungen an die Elite steigen.
Andriy Dubchak / AP

Untersuchungen über Unregelmässigkeiten beim Strassenbau gab es seit Jahren. Doch Selenski musste Timoschenko wegen der öffentlichen Entrüstung über dessen unanständiges Verhalten in Kriegszeiten entlassen: Der Präsidentenberater war ostentativ teure Autos gefahren, darunter den Porsche Taycan eines befreundeten Geschäftsmanns und einen Chevrolet Tahoe, der eigentlich für Hilfsprojekte vorgesehen war. Dies machte sich wiederum Andrei Jermak zunutze, der Leiter des Präsidentenbüros und ein interner Rivale Timoschenkos, um dessen Absetzung zu forcieren.

Solche Machtspiele tragen wenig dazu bei, das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken. Sie sind umso heikler, als Jermaks Stab seit Februar 2022 enorm an Einfluss gewonnen hat. Er agiert als mächtige Parallelregierung, während etwa das Parlament wegen des Kriegsrechts gegenüber der Exekutive nur noch beschränkt handlungsfähig ist. Die wichtigsten der insgesamt 46 Präsidentenberater sind dominante Stimmen in den Medien - als Sprachrohre Selenskis, die seine Entscheidungen erklären und ergänzen.

Selenskis doppelter Kampf

Dass sich die Unzufriedenheit der Ukrainer gegen die Regierung richten kann, machen die beiden Revolutionen seit 2004 klar. Bis jetzt bewahrt Selenski durch sein Charisma und Kommunikationstalent hohe Popularität. Solange der Kampf gegen Russland alle Energien absorbiert, bleibt der Kriegspräsident unangefochten.

Doch er hat viel versprochen: einen Sieg über Moskau inklusive der Rückeroberung aller besetzten Gebiete und das Ende der Korruption im Land. Auf diesem Weg wird Selenski in Zukunft noch stärker von seinen innen- wie aussenpolitischen Verbündeten abhängen. Seine Ziele stehen zudem in einem Spannungsverhältnis, da sich der fragile patriotische Schulterschluss aller Kräfte nur schwer mit der Jagd nach bestechlichen Staatsdienern vereinbaren lässt. Das zweite Kriegsjahr droht für Selenski noch schwieriger zu werden.


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